Friedensnobelpreis 1913: Henri Marie La Fontaine

Friedensnobelpreis 1913: Henri Marie La Fontaine
Friedensnobelpreis 1913: Henri Marie La Fontaine
 
Der belgische Politiker wurde für sein vielfältiges Wirken im Dienst des Friedens ausgezeichnet.
 
 
Henri Marie La Fontaine, * Brüssel 22. 4. 1854, ✝ Brüssel 14. 5. 1943; 1895-98, 1900-32, 1935-36 Abgeordneter der Sozialisten im belgischen Senat, 1895 Mitglied der Inter-parlamentarischen Union, 1907 Präsident des Internationalen Ständigen Friedensbüros in Bern.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Der letzte Friedensnobelpreis vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914-18) ging 1913 an den belgischen Politiker, Juristen und Publizisten Henri La Fontaine. Als die Deutschen 1914 in Belgien einmarschierten, verließ er seine Heimat und emigrierte zunächst nach England und dann in die USA. 30 Jahre nach der Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis starb La Fontaine im Alter von 89 Jahren. Und wieder befand sich die Welt im Krieg, und wieder war sein Heimatland von den Deutschen besetzt. So war das persönliche Schicksal einer der Größen der europäischen Friedensbewegung auf tragische Weise mit verheerenden Kriegen globalen Ausmaßes verbunden.
 
 Ausdauernder Kämpfer für den Frieden
 
La Fontaine gehört zu jenen Preisträgern, die weniger durch spektakuläre Taten als durch eine kontinuierliche und vielfältige Arbeit für den Frieden in Erscheinung getreten sind. Ein großer Anteil an der Entwicklung des Friedensaktivisten Henri La Fontaine wird dem britischen Pazifisten Hodgson Pratt zugeschrieben. Der junge La Fontaine begegnete Pratt, als dieser 1883 auf einer Vortragsreise nach Belgien kam. Begeistert griff er als Spezialist für internationales Recht dessen Ideen für eine Welt in Frieden auf und übernahm 1889 die Leitung der belgischen Filiale von Pratts »Gesellschaft für Schiedsgerichtsbarkeit und Frieden«.
 
1895 wurde der überzeugte Sozialist in den belgischen Senat gewählt, dem er mit Unterbrechungen bis 1936 angehörte. Wie viele seiner europäischen Abgeordneten-Kollegen schloss er sich der Interparlamentarischen Union an, jener 1889 von Frédéric Passy (Nobelpreis 1901) und William Cremer (1903) gegründeten internationalen Vereinigung von Abgeordneten zur Herstellung von Friedensabkommen und Schiedsgerichtsbarkeit. Über viele Jahre hinweg war La Fontaine eines der aktivsten und einflussreichsten Mitglieder. In der Interparlamentarischen Union sah er sogar die Vorstufe zu einem Weltparlament. So präsidierte er folgerichtig einer Kommission der Union mit der Aufgabe, ein solches Weltparlament vorzubereiten. 1907 übernahm La Fontaine auch den Vorsitz im Internationalen Ständigen Friedensbüro in Bern (Nobelpreis 1910).
 
La Fontaine erhielt den begehrten Preis drei Jahre später. Das Komitee honorierte damit das unermüdliche Wirken eines Mannes, der zu diesem Zeitpunkt als Kopf der europäischen Friedensbewegung galt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war für La Fontaine wie für viele Pazifisten ein herber Rückschlag in ihrer Arbeit. Irritiert nahm er die Welle der Euphorie zur Kenntnis, die der große Krieg auch bei vielen europäischen Sozialisten und Friedensanhängern auslöste.
 
Doch nach dem Ende des Kriegs aus dem britischen und amerikanischen Exil in seine belgische Heimat zurückgekehrt, nahm La Fontaine sein Friedenswerk sofort wieder auf. An der Pariser Friedenskonferenz von 1919 nahm er ebenso teil wie an der konstituierenden Sitzung des neuen Völkerbunds im Jahr 1920. Dieser Institution stand er freilich mit erheblicher Skepsis gegenüber. Als Instrument zur Verhinderung zukünftiger Kriege hielt er den Völkerbund für untauglich, weil dieser nicht über die Möglichkeit zu einem wirkungsvollen militärischen Eingreifen gegen imperialistische Mächte verfügte. Und auch die Weigerung kleinerer Staaten, sich aus Furcht vor Repressalien an internationalen Sanktionen gegen Krieg führende Mächte zu beteiligen, war in seinen Augen ein schweres Manko.
 
 Erfolgreiche publizistische Arbeit
 
Bei allen Bemühungen war die Tätigkeit des Friedenspolitikers La Fontaine insgesamt nur wenig von konkreten Erfolgen gekrönt. Zwar meldete er sich in seiner Eigenschaft als belgischer Senator immer wieder zu Wort, wenn es um die Beilegung internationaler Konflikte oder um friedensschaffende Maßnahmen ging. Doch eine nachhaltigere Wirkung hat er durch seine publizistische Arbeit erzielt. Ihr widmete sich La Fontaine mit besonderem Engagement, entsprach sie doch seiner Überzeugung, dass ein dauerhafter Frieden nur durch Aufklärung und Information einer breiten Öffentlichkeit hergestellt werden könne. Diesem Ziel dienten eine Reihe von Veröffentlichungen, die noch heute den Rang von Klassikern der Literatur zu den internationalen Beziehungen und zum internationalen Recht haben. Dazu zählen vor allem eine Dokumentation von 368 internationalen Schiedsgerichtsabkommen aus der Zeit von 1794 bis 1900 (erschienen 1902) sowie eine 2222 Titel umfassende Bibliografie zu internationalen Friedensabkommen für den gleichen Zeitraum (erschienen 1904). Als sein pazifistisches Hauptwerk gilt das Buch »The Great Solution« (englisch; »Die große Lösung«), das er 1916 mitten im Ersten Weltkrieg veröffentlichte. Darin legte er Grundsätze für eine friedliche Weltordnung vor und plädierte für die Einrichtung internationaler Organisationen zur Verhinderung zukünftiger Kriege. Teile seiner Vorstellungen fanden nach dem Krieg Eingang in die Gestaltung des Völkerbunds. Jedoch machte sich La Fontaine unter dem Eindruck des Weltkriegs keine Illusionen über eine Welt in Frieden. Politik, so lautete seine resignierte, nur privat geäußerte Prognose, würde auch weiterhin ohne die Einbeziehung der sich nach Frieden sehnenden Menschen gemacht werden.
 
Bereits 1895 war La Fontaine durch die Gründung einer großen Friedensbibliothek in Brüssel hervorgetreten. Mithilfe der belgischen Regierung wurde hier eine umfangreiche Sammlung von Literatur zu den internationalen Beziehungen und zur Friedenspolitik angelegt. Im Rahmen dieses Dokumentationszentrums gründete La Fontaine 1907 eine von ihm geleitete Union, deren Ziel und Aufgabe die Herausgabe von Schriften mit Bezug zur Friedensbewegung war. Die Bedeutung dieses Unternehmens lässt sich daran ablesen, dass die Union 1951 den Vereinten Nationen und 1952 der UNESCO angeschlossen wurden.
 
Es gibt wohl kaum einen anderen Friedensnobelpreisträger, dessen Aktivitäten und Interessen so breit gestreut gewesen sind wie die von Henri La Fontaine. Neben seiner juristischen, politischen und pazifistischen Tätigkeit widmete er sich so unterschiedlichen Dingen wie dem Bergsteigen, der Lyrik und Wagners Opern. Nicht zuletzt darf La Fontaine aber auch für sich das Privileg beanspruchen, zu den Vorkämpfern für die Rechte der Frauen zu gehören. Und so verwundert es nicht, dass er neben allen seinen anderen Ämtern lange Zeit Präsident einer Assoziation für die berufliche Ausbildung von Frauen gewesen ist.
 
H. Sonnabend

Universal-Lexikon. 2012.

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